Lisa Gerrard ist ein Phänomen - und ihre Musik ebenfalls. Bereits wie die hochgewachsene Australierin in ihrem spezialangefertigten Abendkleid auf die Bühne schwebt, als sei sie nicht da, als wolle sie nicht da sein, als wolle sie den prunkvollen Raum nicht durch ihre physische Präsenz stören, löst leichte Verwirrung aus. Sie wirkt schillernd, divenhaft, und dennoch schüchtern wie ein junges Mädchen.
Schon da tosender Applaus, der bedeutet, dass sich hier vor allem "Jünger" versammelt haben. Gerrards Publikum mischt sich aus Menschen, die man gemeinhin der Gothic-Szene zuschreibt und Menschen, die sich fein gemacht haben wie für ein klassisches Konzert. Von beidem hat die Veranstaltung schließlich etwas. Mit dem Applaus, hat man das Gefühl, kann Gerrard nicht recht etwas anfangen - einerseits, als wolle sie ihn nicht, fühle sich geschmeichelt, aber überschätzt, vielleicht überrumpelt, andererseits saugt sie ihn auf wie eine Königin der Nacht, der er dennoch gleichgültig ist, weil er ihr doch nur von Normalsterblichen gespendet wurde. Zwischen den Stücken ist stehen viele auf und gehen, nach der Hälfte des Konzerts hat sich schließlich der halbe Saal geleert und dabei bleibt es dann auch. Die Dagebliebenen sind offen für das, was geboten wird oder zu überrascht, um sich dem zu entziehen.
Ein Mittdreißiger an einem riesigen schwarzen Flügel, der Mann am Synthesizer, der sich als Ex-Mitmusiker Brendan Perry ihrer gemeinsamen Band Dead Can Dance entpuppt, und ein junger Mann, der die programmierten Samples mischt, begleiten Frau Gerrard auf der Bühne. Besonders der Pianist scheint seine repetitiv minimalistische, mantrische, meditative Sache sehr gut zu machen, Gerrard leitet den Applaus der Menge auf ihn um und beklatscht ihn sogar selbst.
Ungleich der Königin der Nacht ist die Stimme von Lisa Gerrard eine tiefe Altstimme und sie singt ihre Arien oft zusätzlich kehlig. Ob die Texte der düsteren Lieder über Tod, Freude, Zärtlichkeit, Verlust und das weltweite Bienensterben in real existierenden Sprachen gesungen werden? Wahrscheinlich eher nicht. Und selbst wenn sie es wären, dann bräche die Verständlichkeit der aufeinanderfolgenden Sinneinheiten durch langgezogene Noten, Seufzer oder Vibrato auseinander.
Was man Gerrard aber nicht absprechen kann: Ihr Gesang und ihre Kompositionen verflüchtigen Materie, Körper werden zu Tönen, unterstützt von farbigem Licht, das über die Bühne gleitet. Die Gegenwart verliert an Gewicht, Zeit spielt keine Rolle, weder was die Länge eines Stücks, noch was seine Stellung in der Menschheitsgeschichte anbelangt. Gerrards Kompositionsweise verbindet ihre eigensten Klangwelten mit Klangfetzen der Vergangenheit und des Präsens. Sie überkommt die charakteristischen Strömungen einzelner Kulturen und Epochen, die von ihr erzeugten Gesänge schlüpfen aus der Hülle der Formalien und werden purer Klang, reine Empfindungen eines Menschen, pures Leid, purer Weltschmerz und sind vielleicht der Versuch, menschliche Emotionen in Reinform zu bringen. Gibt man sich diesem Versuch hin, hängt man dieser sonderbaren Sängerin tatsächlich "an den Lippen" bis zum letzten ihrer Laute und, fasziniert von der Ausdrucksfähigkeit dieser Stimme, lauscht man selbst noch der Stille.
Die Komponistin und Sängerin Lisa Gerrard wird zum Medium - und vielleicht ist das der Grund, weswegen sie sich so bescheiden gibt und worauf dieser körperlich ambivalente erste Eindruck beruht. Doch diese Stellung zwischen Göttern, Kunst und Mensch hat auch etwas Unirdisches und deswegen Unheimliches.
Der Abend vergeht währenddessen, ohne dass Gerrard etwas sagt, abgesehen von einem gelegentlichen "Thank you". Dafür bestaunt man vor jedem Stück die gleiche unerklärte Geste: Während sie am vorderen Rand der Bühne in der Mitte platziert ist, legt sie zwischen den Stücken ihre eine Hand auf den Barhocker, der schräg hinter ihr steht und hebt die andere langsam an, anscheinend bis auf die Höhe der richtigen Stimmfrequenz. Erst ganz zum Schluss richtet sie das Wort direkt ans Publikum. Sie erklärt, die Bienen sterben aus. Ein Ungleichgewicht tritt ein, das fatale Folgen hat, auch für den Menschen.
Ob die Interpretation eines solchen Auftretens spirituelle Vorbildung, vielleicht sogar Initiation erfordert - oder einen Hang zum Wahn? Nur eines ist sicher: Es sind starke Kräfte am Werk, wenn sich Menschen so polarisiert angezogen oder abgestoßen von einer Darbietung fühlen.
Mehr erfahren über Lisa Gerrard auf ihrer offiziellen Website, bei MySpace, last.fm und Wikipedia.
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Tina Dico - "Count To Ten (live @ Inas Nacht)"
FrauenMusikZitate
I will keep performing on my own, too, because so much of what I feel is important about the music is how much I can do by myself, or how much any human being can do on their own. And I think, especially, women need to hear that more and more, and need to see a woman doing more on her own.
As much as people may think that's unnecessary anymore, it's my experience that it's really good for women of all ages to see other women being really weird and bizarre and loud.
Merrill Garbus alias tUnE-yArDs (2010)
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